Wenn man einem brasilianischen Fussballfan die Szene beschreiben müsste, wie Cafu 2002 die WM-Trophäe in die Höhe stemmt, würde man eigens erwähnen, dass sein Trikot gelb war? Oder dass er seine Medaille zwar trug, aber auf dem Rücken? Wahrscheinlich nicht. Solche Details werden als selbstverständlich vorausgesetzt, wenn man eine Szene schildert, die jeder Fussballfan viele Male gesehen hat. Nur, dass nicht jeder Fan dieses Bild wirklich gesehen hat.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation gab es 2010 schätzungsweise sechs Millionen blinde oder sehbehinderte Brasilianer. Und angesichts der Bedeutung des Fussballs als Teil der brasilianischen Kultur kann mit hoher Sicherheit angenommen werden, dass die Mehrheit davon dem Spiel mit dem runden Leder ebenfalls sehr zugetan ist. Viele dieser Fans werden nun die Gelegenheit haben, das Erlebnis eines Stadionbesuchs bei einem Fussballspiel wie nie zuvor genießen zu können: Dank der Einführung eines speziellen audiodeskriptiven Kommentardienstes für blinde und sehbehinderte Fans.

Die FIFA startete diese Pionierinitiative bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2014™, doch ihr Engagement und ihre Unterstützung gingen weit über den letzten Schlusspfiff hinaus. Die Nichtregierungsorganisationen Urece - Esporte e Cultura para Cegos (Sport und Kultur für Blinde) und Centre for Access to Football in Europe (Zentrum für Zugang zum Fussball in Europa) taten sich mit der FIFA zusammen, um den Betrieb eines Spielkommentardienstes in vier WM-Stadien – Belo Horizonte, Brasilia, Rio de Janeiro und Sao Paulo – zu koordinieren. Im Anschluss an den enormen Erfolg der Initiative beim weltweiten Fussballfest spendete die FIFA die Ausrüstung für die Radioübertragung an Urece und unterschrieb eine Erklärung, die NGO finanziell dabei zu unterstützen, dieses bahnbrechende Projekt zu einem festen Bestandteil in brasilianischen Stadien zu machen. Der erste konkrete Schritt in diese Richtung wird im Oktober unternommen, wenn alle Spiele der nationalen Ligen im Maracana-Stadion in Rio de Janeiro den audiodeskriptiven Kommentardienst anbieten werden.

"Dies ist die Art von Ergebnissen, die wir anstreben, wenn wir über ein bleibendes Vermächtnis in einem Land, das einen FIFA-Wettbewerb ausrichtet, sprechen", sagte der Leiter der FIFA-Abteilung für soziale Verantwortung, Federico Addiechi. "Was einfach nur als Mittel hätte angesehen werden können, um dem Erlebnis der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft einen zusätzlichen Wert zu geben, hat sich stattdessen zu einer Dienstleistung entwickelt, die jede Woche das Leben vieler Fussballfans beeinflussen wird. Darüber hinaus bleibt das Humanerbe, den Kommunikationsprofis dabei zu helfen, die speziellen Kenntnisse für die Arbeit mit sehbehinderten und blinden Fans auszubilden und zu entwickeln."

Visuell denken

Es stellt sich heraus, dass Radiokommentatoren es zwar gewöhnt sind, Spielzüge zu beschreiben, gleichzeitig aber automatisch davon ausgehen, dass ihre Zuhörer über ein uneingeschränktes Sehvermögen verfügen. So hat Urece im Verlauf der letzten Wochen eine Gruppe von Moderatoren darin geschult, eine spezielle Form von Spielkommentaren zu geben, die sehbehinderten Fans präzise Beschreibungen und Erklärungen bietet. Dies kann die Wahrnehmung einer Person, die das Geschehen nicht sehen kann - und vielleicht noch nie sehen konnte - stark verändern. Die Unterschiede zu einer normalen Radioübertragung mögen auf den ersten Blick subtil erscheinen, doch ein spezieller audiodeskriptiver Kommentar kann das Erlebnis all derjenigen, die ein Fussballspiel besuchen und ihre Geräte auf die Frequenz des Dienstes einstellen, erheblich verbessern.

"Aus diesem Grund basierte der erste Teil unserer Schulung auf Bildern, die jeder brasilianische Fussballfan auswendig kennt, wie beispielsweise Cafu beim Hochheben der Trophäe", erklärt Mauana Simas, die Projektkoordinatorin von Urece. "Unsere Augen und Gedanken sind von den gleichen Mustern abhängig, und man muss diese Gewohnheiten zerstören, um zu verstehen, was für einen sehbehinderten Zuhörer Sinn ergibt. Im Anschluss an diese Online-Übung machen wir eine Stadionführung mit verbundenen Augen, bei der ein Kommentator dem anderen beschreibt, was er sieht. Abschließend haben wir Live-Übungen während eines Spiels. Am Ende können sich die Kommentatoren in einen blinden Zuhörer hineinversetzen."

Der gesamte Prozess wurde von Menschen wie dem Urece-Präsident Anderson Dias beaufsichtigt, Goldmedaillengewinner im 5er-Fussball bei den Paralympics Athen 2004 und Weltmeister von 2000. Am Ende steht die Zertifizierung von etwa einem Dutzend Kommentatoren, die im Maracana arbeiten werden.

"Es ist alles noch sehr neu, auch die Tatsache, den lokalen Vereinsfussball zu kommentieren und keine Länderspiele wie während der WM", sagt Simas. "Dies erfordert wahrscheinlich eine Extraportion Begeisterung, während die Beschreibungen weiterhin sehr visuell und präzise sein müssen. Es ist ein Pilotprojekt, welches wir hoffentlich bald auch in anderen Stadien Brasiliens einführen können. Doch allein die Tatsache, dass wir dies zu einem festen Bestandteil im Maracana machen, ist mehr als wir uns je hätten träumen lassen. Viele Fussballfans werden sehr, sehr dankbar sein."

FIFA.com



Published 30/09/2015